LEIPZIG IST (WIE) EINE GONDEL - von Markéta Pilátová, tschechische Schriftstellerin und vom 1. bis zum 31. Oktober 2020 Residenzautorin in Leipzig

Es war ein Sonntag im Herbst, noch wärmte die Sonne, und den Flusskanal entlang schaukelte sanft eine Gondel und zog ihren Weg durch die Schatten. Der schwarz gekleidete Gondoliere mit Strohhut stieß sich mit einer langen Stake ab und machte dem Venedig des Nordens, Leipzig genannt, alle Ehre. Da sich der Mensch nun einmal vorgenommen hatte, das ganze Leben so viel wie möglich zu reisen, kommt es ihm jetzt so vor, als ob ihn ständig alles an etwas erinnert. Und Leipzig erinnert mich gerade jetzt an Venedig. Hunderte von Kanälen mit Booten, Kajaks, Touristenschiffen, verschiedensten Brettern/ Boards und darauf sportlich gekleidete Menschen, die sich mit Paddeln abstoßen. Und dann fährt der Mensch ein paar Kilometer auf dem Fahrrad und fühlt sich wie in Buenos Aires. Auf der Uferpromenade entlang des mächtigen Flusses La Plata; nur heißt hier der Fluss Pleiße, und gleichzeitig sind da eigentlich weitere und weitere Arme der drei anderen Flüsse. Und die nicht endend wollenden verlockenden Wege entlang der Flüsse haben etwas von der endlosen Pampa, die gleich hinter dem Stadtrand von Buenos Aires beginnt.

Die Leipziger Gondel bewegt sich im sanften Rhythmus ihrer Flüsse. Lasst uns durch die Stadtviertel gehen – durchs trendy Plagwitz, Lindenau, oder durchs Zentrum; das ganze Stadtleben, einst vom Smog der umliegenden Kohlebecken bedeckt, aus denen heute herrliche Seen geworden sind, trägt gleichzeitig Ruhe und fließende Bewegung in sich. Als ob überall Wasser ist, auch in dem Hostel „Fünf Elemente“, in dem ich jetzt für einen Monat wohne und Erzählungen schreibe, und in dem, wie Kinder in einem auf dem Fluss ausgesetzten Korb, eine besondere Art von Reisenden/ Weltenbummlern landet, die sich vom Strom des Lebens, der Flüsse und Städte entführen lassen. Da ist zum Beispiel der Spanier Igor, der im Hostel als Freiwilliger arbeitet und dafür Unterkunft und Frühstück bekommt. Igor erlebte die erste Coronavirus-Welle in einem ähnliche Hostel in Thailand und hatte sich nach einem halben Jahr hierher begeben, um der zweiten Welle zu entgehen, die in Spanien stärker wütet als in Deutschland. Während er mir das erzählt, tippt die Rumänin Simone etwas in ihren Computer. Simone ist Ghost Writer und spricht mit mir Portugiesisch, denn die letzten zwei Jahre hat sie in Lissabon gelebt und dort etwas für einen spanischen Reiseblog in Englisch unter einem Pseudonym für einen viel berühmteren, aber viel weniger kreativen Blogger geschrieben, als sie es ist. Simone schreibt angeblich zu jedem Thema irgendetwas. Und wenn sie etwas verdient, begibt sie sich in ein anderes Land, in ein weiteres Hostel, taucht in einen weiteren Fluss von Sprachen und Reisen ein. Solche langfristigeren Bewohner gibt es hier noch mehr. Sie treffen sich zum Abendessen im Speiseraum, und Tom aus Australien macht für alle hauchdünne Eierkuchen und bestreicht sie mit Nutella vom Frühstück. Bei jedem neuen ruft die Italienerin Laura mit piepsiger Stimme „Bravissimo!“. Wir kennen uns schon, winken uns kurz zu, mit einem verständnisvollen Lächeln hinter der Maske. Wir sind alle aus irgendeinem Grunde hier, den wir uns selbst gewählt haben oder der uns ausgewählt hat; aber alle sind wir in einer Stadt, die von Flüssen umgeben ist und deren Arme sich gleichzeitig zu Stärke und Frieden bekennen. Gerade hier begann die Berliner Mauer bei den friedlichen Montagsdemos zu bröckeln, gerade hier spielte Bach seine Fugen und Goethe schrieb seinen Faust und Schiller seine Ode an die Freude. Auch sie mussten entlang der hiesigen Flüsse gegangen sein, mussten ihre Kraft und unendliche Strömung gespürt haben. Sie sind in sie eingetaucht, gerade so wie ich, wenn ich beim Schreiben den Fugen lausche und versuche, in meinen Texten ihre Struktur nachzuahmen, die Polyphonie der Stimmen, den dringenden Kontrapunkt und das sich wiederholende Thema. Und der Gondoliere, der Leipziger oder venezianische, in Schwarz gekleidet, schaukelt sanft irgendwo in der Ferne und dabei so nahe auf dem flachen Kanal.

Im Interview mit leipzig.travel spricht die tschechische Schriftstellerin über überraschende Erfahrungen und vielfältige Inspirationen während ihres Residenzaufenthaltes in Leipzig. mehr...

Foto: David Konečný (Moravská zemská knihovna v Brně - České literární centrum) (CC BY-NC-ND 4.0) 

Hashtags: 
#20cz #echotschechien2020

Newsletter abonnieren

Verpassen Sie keinen Programmpunkt des Tschechischen Kulturjahres und abonnieren Sie unseren Newsletter.

Drupal ᐬrts Drupal Váš Expert Na Drupal Web